Backpfeifen und Herzkirschen:
Tim Raue im Interview
Im Gespräch mit Sommelier Willi Schlögl packt Tim Raue aus. Es wurde schon viel über ihn geschrieben – die harte Kindheit, Jugendgangs und seinen Ehrgeiz. Selten hat man den Starkoch jedoch so offen erlebt, wie in dem fast 90 minütigen Gespräch im Weinpodcast „Terroir & Adiletten“. Raue gewährt ungewöhnlich tiefe Einblicke in seine Seele – und nimmt natürlich auch sonst kein Blatt vor den Mund.
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Wie bist du vom Küchenchef zum Fernseh-Tim-Raue geworden?
Tim: Ich bin durch Zufall ins Fernsehen gekommen. Ich habe die erste Sendung 2010 gemacht, um das Restaurant zu eröffnen. Uns hat damals das Grundkapital gefehlt und die Bank meinte: Wenn ihr eine Million haben wollt, wollen wir 200.000 sehen. Genau dann kam Sat.1 um die Ecke: Wir haben hier ‚Deutschland sucht den Meisterkoch‘, da brauchen wir vier Hanseln, einer davon kannst du sein. Wir brauchten das Geld und es sah nicht so aus, als würde es wirklich wehtun – also nicht so sehr wie ein normaler Arbeitstag in der Küche. Was das wirklich bedeutet, habe ich überhaupt gar nicht realisiert. Es wurde dann Mitte der 2010er mehr, als Tim Mälzer meinte: wir müssen was zusammen machen, das muss lustig werden. Dabei habe ich glücklicherweise sehr, sehr viel von ihm gelernt. Vor und auch hinter der Kamera.
Wie kommst du mit der Öffentlichkeit zurecht?
Tim: Was mir bis heute abgeht ist, dass ich Applaus brauche oder Öffentlichkeit. Also irgendwo ankommen und es geil finden, wenn Menschen sagen: ‚Können wir mal ein Foto machen, sie sind doch Herr Raue‘. Diese Eitelkeit habe ich einfach nicht. Ich nehme mich bis heute nicht besonders ernst als öffentliche Person. Aber wenn jemand höflich fragt, dann bin ich ganz offen und nett, gebe ein Autogramm oder mache ein Foto. Aber das ist nicht mein Antrieb.
Was ist beim Essen dein guilty pleasure?
Tim: Alles was in Fett gebadet hat. Das steht auf meinem Altar. Und ich bin schwerst zuckerabhängig. Alkohol und Kippen sind für mich gar kein Thema, Drogen auch nicht. Mit 16 hatte ich alles durch – Heroin, Kiffen und Koksen, alles. Das hat mir nichts gegeben. Ich kann auch die geilsten Weine beiseite schieben. Aber wenn mir jemand mit richtig guten Chips um die Ecke kommt, Fritten oder Cantonese Barbecue: Da kann ich nicht nein sagen. Du kannst mir eine 1,8 Kilo Dose Kaviar hinstellen, ich latsch vorbei, wenn daneben Kentucky Fried Chicken ist. Das ist für mich einfach das Ding meiner Kindheit. Ich habe zwei Jahre in der Nähe von Frankfurt verbracht, da gab es viele US-Army Barracks, die hatten ein Kentucky Fried Chicken, das gab es nirgendwo sonst in Deutschland. In diesem ekelerregenden, neonhellen Laden dem bösen Frittierten frönen und danach mit einem geschändeten Gaumen raus, sich irgendwo in richtig schön heißem Wasser die Hände waschen. Ahhh… (räkelt sich genüsslich)
Apropos Gaumen, du bist einer der wenigen Küchenchefs in Deutschland, die einen sehr guten Weingaumen haben. Woher kommt das?
Tim: Ich ich habe mich früh damit beschäftigen müssen. Und dann habe ich halt in der jeweiligen Region ganz oben angefangen, bei Champagner zum Beispiel Krug, Selosse, Dom Perignon und Cristal, um zu verstehen, was das eigentlich ist, Champagner. Und genauso habe ich schnell für mich entdeckt, dass es Weinregionen gibt, die mir einfach scheißegal sind. Das ist aber auch sinnbildlich für mein Leben. Ich ignoriere viel, schiebe vieles beiseite. Ich bin Fachidiot, der sich auf das fokussiert, was für ihn wichtig ist.
Böse ausgedrückt: Du bist ein Etikettentrinker.
Tim: Ich bin kein Etikettentrinker, sondern ich trinke einfach das Beste. Ich bin aber auch bei Blindverkostungen richtig gut. Ich kriege immer wieder was hingestellt, weil irgendwelche Klugscheißer wissen wollen, ob ich wirklich was davon verstehe. Es gab mal eine Champagnerverkostung, ein sehr bekannter Weinkritiker war dabei, der der Meinung war, dass ich nicht genug Ahnung hätte und meine Fokussierung auf Krug und Selosse sich nicht bestätigen würde. Und dann haben wir an dem Abend 24 Champagner probiert und meine Nummer eins und meine zwei waren: Krug und Selosse. Ich bin einfach geschmackstreu, das ist natürlich in der Küche ganz einfach, denn wenn du Gerichte kreierst und weißt welches Geschmacksbild du haben willst, schmeckst du das.
Und wenn ich mich für etwas interessiere, dann setze ich mich damit auseinander. Ich habe mich von der Gosse hochgearbeitet und heute möchte ich nichts Billiges oder Einfaches mehr haben. Ich trinke wenig, sehr fokussiert und genieße dann. Und gut reicht mir nicht, für gut stehe ich nicht auf.
Sondern?
Tim: Es gibt gut, sehr gut und hervorragend. Bei hervorragend fängt es an, mir Spaß zu machen. Und dann gibt es noch die letzte Stufe: exzellent. Diese letzten zwei Stufen, das sind nur noch 5 und 2 Prozent. Da geht es darum, dass du nicht nur mehr arbeitest als alle anderen, sondern einfach alles investierst, dich komplett fokussierst. Und dass du es mit Liebe und Leidenschaft machst, mit all deiner Energie und Kraft. Das ist der Unterschied.
Wie stehst du eigentlich zum Thema Weinbegleitung?
Tim: Marie und ich waren vor vielen Jahren bei Heston Blumenthal im Fat Duck essen, drei Sterne, unser bis dato teuerstes Essen in unserem Leben. Wir haben die Weinbegleitung gewählt – und obwohl wir sehr jung waren, so 24 oder 25, wussten wir damals schon: Die verarschen uns. Die Weinbegleitung hat so viel gekostet wie das Menü, es gab einen roten Burgunder zum Hauptgang, eine Dorflage aus Savigny-lès-Beaune. Von einem Weingut, von dem wir noch nie gehört haben und von dem ich auch nie hätte hören wollen. Du bist also in einem once-in-a-lifetime Restaurant und kriegst einen Durchschnittswein. Das geht einfach nicht! Wenn er perfekt zum Essen gepasst hätte, gar kein Problem. Aber das hat er nicht. Da haben wir uns gefragt: Warum zur Hölle passiert das, warum machen die das?
Das gibt es bei uns nicht. Marie hat unsere Service-Philosophie so definiert: Jeder, der zu uns kommt, soll das Gefühl haben, dass er bei Freunden zu Hause ist. Das Essen muss das Beste sein, das du an dem Tag essen kannst. Und so muss der Wein dazu auch außergewöhnlich sein. Man muss aber auch sagen, dass weder Marie noch ich gierig sind. Wir haben nie versucht, den letzten Cent aus irgendwas herauszupressen, sondern haben mehr in die Ware Wein und Essen gesteckt, als wir rausziehen konnten.
Den Gast glücklich zu machen zu wollen, das erzeugt auch viel Druck, oder?
Tim: Das ist für mich die Quintessenz meines ganzen Schaffens. Im Mittelpunkt steht der Gast und dass du nicht jeden Gast begeistern kannst, das musst du auch erst mal lernen. Das ist eine ganz, ganz harte Lektion. Von 100 Gästen wirst du nicht 100 zufrieden stellen, sondern du hast zehn, die sagen: Das war scheiße, da geh ich nie wieder hin. Und du hast zehn, die erzählen dir: Weltklasse, der beste Restaurantbesuch in meinem Leben. Die kannst du beide ignorieren, wichtig ist nur, was die 80 Prozent sagen. Ich habe eine Psychotherapie gebraucht, um das ausblenden zu können, das hat mich einfach getroffen. Ich habe nicht an die 99 gedacht, die gesagt haben, das war gut, sehr gut oder exzellent, sondern ich habe immer das Schlechte gehört und mich im Gesamten in Frage gestellt. Und das ist einfach falsch.
Du bist dafür bekannt, auszuteilen aus wie ein Großer, aber du steckst auch gut ein. Wie funktioniert diese Balance?
Ich finde ja gar nicht, dass ich so austeile, ich bin halt einfach direkt. Ich habe früher versucht, meine soziale Herkunft zu kaschieren. Also habe mich hübsch angezogen, was so Otto-Normalverbraucher für hübsch hält, Anzug, Krawatte und so. Ich habe versucht, immer das Deutsch zu sprechen, was man hören wollte. Und irgendwann habe ich dann gemerkt, dass ich mich verstelle und mit mir nicht glücklich bin, nicht im Reinen. Und seitdem sage ich, was ich denke, aber nur, wenn das jemand auch provoziert. Ich bin eigentlich sehr still, sehr zurückhaltend. Ich setze mich irgendwo an ein Tischchen. Ich will keine Sonderbehandlung. Aber wenn jemand kommt und Ärger haben will, dann gehe ich dem nie aus dem Weg. Nie. Also mit mir kann man in einen Krieg ziehen.
Wie kommt ihr durch die Pandemie?
Tim: Bisher haben wir alles ganz gut überstanden, weil wir sofort solidarisch an unsere Mitarbeiter gedacht haben und überlegt haben, wie flexibel wir sein können. Es ging nicht ums Kohle machen, sondern ums überleben. Und da kommt bei mir einfach die Straße durch, der Überlebensinstinkt. Ich bin ein Überlebender. Ich würde alles beiseite räumen, um zu überleben. Es gibt für mich keine Grenze, kein No-Go, um zu überleben.
Bist du als Koch seit deinen Anfängen kommerzieller, angepasster geworden?
Tim: Ich habe früher so intensiv gekocht, weil ich wollte, dass das die Menschen wissen, dass ich existiere. Wobei es mir dabei gar nicht um mich persönlich ging, denn ich nehme mich nicht so ernst, sondern eher um das Business. Also dass sie kommen, dass sie Geld da lassen, dass der Umsatz floriert.Und künstlerisch hatte ich auch erst mal eine Findungsphase. Ehrlicherweise wusste ich gar nicht, wie ich mit Schärfe umgehen muss. Ich habe keine Balance gehabt. Ich habe zum Beispiel eine Thai-Chili klein gehackt hab und aufs Essen gelegt – das brennt einfach wie Feuer. Wenn du dann aber lernst, die in eine Soße zu geben, zu vakuumieren, zwei Stunden ziehen zu lassen und dann zu passieren, merkst du: Da kommt eine Balance rein. Und das gilt auch für einen selber. Wenn du an einem Tag 200% gibst, dann kannst du am nächsten nur 50% geben. Aber man wird älter und im besten Fall weiser und kann damit umgehen.
Du bist bei Kritikern inzwischen einhellig gefeiert, das war aber nicht immer so, oder?
Tim: Meine allererste Bewertung waren 10 Punkte im Gault Millau. Ich habe das mal so übersetzt: Egal was du da in der Küche gemacht hast, werde morgen Kfz-Mechaniker. Da habe ich eindeutig noch mal überlegt, ob die Berufswahl wirklich sinnvoll war.
Nun habt ihr seit einer Weile zwei Sterne. Fehlt da nicht noch einer?
Tim: Marie und ich sind sehr, sehr glücklich mit dem Laden, so wie er ist. Und man muss ganz klar sagen wir haben Dinge, die andere nicht haben. Wir haben eine Netflix Episode. Wir gehören jetzt seit 6 Jahren am Stück zu den The World’s Fifty Best Restaurants. Das hätte ich mir noch nicht mal in meinen kühnsten Träumen erträumt. Sind drei Sterne das höchste? Ja, ich hätte auch nichts dagegen, aber ich kann auch mit dem Makel leben, diese nie zu bekommen.
Und wenn ein anderes Restaurant in Berlin plötzlich drei Sterne bekommt, was löst das für ein Gefühl aus?
Tim: Ich bin durch und durch Berliner. Ich liebe diese Stadt und es ist für uns elementar gewesen, dass es in Berlin, wo es mehrere Restaurants gibt, die meines Erachtens drei Sterne verdient haben, endlich wenigstens eins gibt. Marco Müller ist ein fantastischer Kollege und ich gönne es ihm von ganzem ganzem Herzen! Er hat sich in den letzten Jahren mit seiner Küche noch mal erneuert. Geschmacklich hat er immer dieses wunderbare französisch-balancierte gehabt, aber er war auch der erste, der tatsächlich regional und lokal gedacht hat, ohne das marketingtechnisch aufzusetzen.
Das hat nichts damit zu tun, dass ich das nicht auch will. Aber auch Hendrik Otto, das Facil, das Horvath: Das sind einzigartige Restaurants, die hoch individuell arbeiten, die im internationalen Vergleich drei Sterne verdient hätten. Aber allein eins ist geil! Jetzt haben wir mit dem Nobelhart und uns zwei in den Fifty Best, wir haben mich mit der Netflix-Scheiße. Das heißt, wir ziehen einfach Menschen aus der ganzen Welt an, die hier herkommen.
Darunter auch eine junge Generation von Gastronomen und viele, sagen wir mal: Hipster-Restaurants.
Ja. Zum Beispiel letzte Woche, da war ich war im Kiez am Helmholtzplatz in einem Restaurant. Ich habe supergeil gegessen. Aber: Schon beim Reinkommen hat keine Sau danach gefragt, ob wir ein Impfzertifikat haben. Sie waren alle nur beschäftigt, cool zu gucken. Da habe ich schon keinen Bock mehr. Dann setzt du dich hin, guckst dir die Menükarte an und oben steht so was wie ‚Fuck industriell’ oder so, dieser moralisch erhobene Zeigefinger, wir sind besser und wir sind nachhaltiger. Und dann kriegst du verficktes, von chinesischen Kindern hergestelltes Bleibesteck und die widerlichsten Pressglas-Bleigläser, natürlich haben sie auch nur eine einzige Glasform, um ihre beschissenen, nach Katzenpisse stinkenden Naturweine auszuschenken und halten sich für die Größten. Das geht mir auf den Sack, dass da eine ganze Generation herangezogen wird, die völlig verhätschelt ist. Die sich natürlich leisten kann zu sagen: Wir sind vegan! Weil sie mit 15 Meter Fleischregalen bei Rewe und Edeka aufgewachsen sind, während ich noch weiß, was Hunger bedeutet hat. Und Fleisch gab es ein oder zweimal in der Woche. Ich verstehe das, auch wir kochen vegan. Ich möchte etwas, das fundiert ist und setze mich gerne mit jemandem verbal auf Augenhöhe auseinander. Aber bitte nicht dieses Marketingesülze! Dann tun sie so auf Individualität und sehen alle gleich aus, haben alle die beschissene Mütze auf, irgendwelche beknackten Ohrringe an, die Hosen sind zu kurz und dabei fühlen sie sich irgendwie ach so ganz anders als ihre Eltern.
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